Vor einiger Zeit haben wir auf wmn einen Fitnessartikel veröffentlicht, der das selbe Titelbild wie dieser Artikel zeigt. Darauf zu sehen? Eine sehr durchtrainierte Frau im Gym. Die Lesernachrichten kamen damals prompt und fielen unerbittlich aus: „Einfach gruselig, das ist doch nicht mehr menschlich“ oder „Mädels, besinnt euch, wir wollen auch mal kuscheln, nicht ringen.“.
Geschockt von so viel Oberflächlichkeit frage ich mich dennoch: Woher kommt dieses Denken um Frauen mit Muskeln und kann eine Frau überhaupt zu viele Muskeln haben?
Widersprechen Frauen mit Muskeln dem Schönheitsideal?
Mit dem beginnenden 20. Jahrhundert kam es immer mehr in Mode, dünn zu sein. An weiblichen Rundungen sollte es dabei allerdings auch nicht mangeln: Busen und Po der Frau sollten herausstechen. Männer hingegen sollten breite Schultern und einen athletisch trainierten Körper aufweisen.
Bestimmt wurden diese Körperideale vor allem durch die jeweiligen Lebensbereiche von Mann und Frau. So war die Frau das ästhetische Prestigeobjekt ihres Mannes und vor allem für den häuslichen Bereich zuständig, wohingegen der Mann zumeist arbeitete und das Geld nach Hause brachte.
Zwar sind die Zeiten der getrennten Lebensbereiche zum Glück (größtenteils) vorbei, doch das damalige Schönheitsideal hält sich bis heute hartnäckig. Schlanke Frauen werden zwar nicht mehr als Prestige des Mannes verstanden, dafür aber mit einem dynamischen, modernen und emanzipierten Lebensstil gleichgesetzt, meint zumindest die Psychoanalytikerin Dr. Ada Borkenhagen im Interview mit fluter.
Das Benzin der Schönheitsideale
Und wer befeuert diese Schönheitsideale heute? Richtig, Mode und Medien sind vorne dabei und verbreiten scheinbar ideale Körperbilder. Scheinbar, weil der Retuschepinsel schneller gezückt ist, als man 90-60-90 sagen kann. Auch die sozialen Medien promoten die perfekten Körper und machen es mit ihrer Kultur der Selfies so schnell und einfach wie nie möglich, sich zu vergleichen. Und das, obwohl Licht, Winkel, Make-up und Filter die Realität völlig verzerren.
Warum so kritisch?
Soweit so stereotyp, aber warum erheben sich unsere LeserInnen zu solchen Urteilen, wenn sie eine Frau mit Muskeln sehen? Frauen gelten bis heute als das schöne Geschlecht in den Köpfen vieler Menschen und so wird besonders auf ihr Äußeres geachtet. Zwar geht der Trend immer mehr dahin, dass Frauen sich für sich hübsch machen, als eine Art selfcare, aber die andere Seite der Medaille ist eben auch, dass viele Frauen sich im Korsett der Gesellschaft eingeschnürt fühlen.
Fakt bleibt nämlich, dass viele Frauen sich auch um ihr Äußeres kümmern, um ihre Chancen auf dem Arbeits- und dem Datingmarkt zu erhöhen. Traurig, aber wahr ist, dass in den Köpfen vieler feststeckt, dass sie gut aussehen müssen, um gesellschaftlich und wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Dieses Denken akzeptiert jedoch die kritischen Blicke auf unsere Körper.
Natürlich unterliegen auch Männer diesen kritischen Blicken: Ein Sixpack und volles Haar sind ebenso Ideale, denen viele Männer nacheifern. Ersteres ist allerdings sehr viel leichter zu erreichen, da Männer über mehr Testosteron im Körper und eine andere Muskel-Fett-Verteilung verfügen. Ein anderes Beispiel sind Falten und graues Haar: Gelten diese bei Männern als allgemein sexy, bewirken sie an Frauen genau das Gegenteil. Allein das Älter-Werden wird somit mit zweierlei Maß gemessen.
Das neue Körperideal sieht Muskeln & Training vor
Viele Frauen, mich eingeschlossen, haben sich Jahre lang dem allgemeinen skinny Schönheitsideal unterworfen und vor allem auf Ausdauersport und strikte Diäten gesetzt, um bloß nicht an zu viel Muskelmasse zu gewinnen. Mittlerweile haben viele Frauen allerdings das Kraft- und Hanteltraining für sich entdeckt. Nach Borkenhagen verwundert das nicht groß:
Das hat mit der gesellschaftlichen Entwicklung und der stärker werdenden Individualisierung zu tun. In der westlichen Welt sind wir dazu aufgefordert, die eigene Identität herauszubilden. […] Heute muss man ein eigenes Profil haben, ganz gleich welches. Deshalb ist das Aussehen wichtiger geworden und der eigene Körper das Medium, über das die Identität ausgedrückt wird. – Dr. Ada Borkenhagen
In einer Welt voller Individualisten ist das Krafttraining im Fitnessstudio eine einfache Möglichkeit, sich eben auch körperlich zu formen. Somit wird der Körper zum eigenen Aushängeschild. Und wehe dem, der angibt, nicht regelmäßig Sport zu treiben.
Frauen mit Muskeln sind am trenden
Körperideale unterliegen demnach zurzeit einem Wandel. Das beste Beispiel stellt die mehr als erfolgreiche Fitnessinfluencerin Pamela Reif dar. Immer wieder erklärt sie, dass sie nur mit dem Training angefangen hätte, um nicht mehr so dünn auszusehen. Nun, heute trägt sie XS und ist zudem an jedem Zentimeter ihres Körpers durchtrainiert. Für ihre über 6,5 Millionen Follower auf Instagram promotet sie damit ein neues Schönheitsideal.
Ob dieses erstrebenswerter ist, ist mehr als fraglich, zumal es für viele heute bedenklicherweise en vogue zu sein scheint, süchtig nach Sport zu sein. Schön ist heute nach dieser Denkweise, wer trainiert – und sei es nur in einer Yoga-Einheit. An diesem Punkt erscheint die Frage danach, ob eine Frau mit Muskeln auch zu viel trainieren kann, als legitimer Einwand.
Wenngleich betont werden muss, dass diesem neuen Körperideal konträr die Body Positivity– bzw. Body Neutralitäts-Bewegung gegenüberstehen, nach denen es nicht mehr so wichtig sein sollte, wie der eigene Körper aussieht.
Muskeln als Ausdruck von Stärke & Gesundheit
Muskelaufbau bedeutet aber keineswegs immer ein zwanghaftes Nacheifern von Körperbildern. Ein definierter Bizeps kann schlicht Ausdruck von Stärke und Gesundheit sein.
Zunächst einmal: Um die Oberarme des Models auf unserem Aufmacherbild zu bekommen, braucht es einiges an Arbeit. Denn Frauen haben es sehr viel schwerer, Muskeln aufzubauen. Schuld daran sind unsere Gene, mangelndes Testosteron und zu viel Östrogen. Was es braucht, um ein Kilogramm Muskelmasse aufzubauen, liest du hier.
Hat eine Frau viele Muskeln bedeutet das also vor allem eines: knallharte Disziplin und sehr hartes Training. Zwei Dinge, die alles andere als gruselig sind, sondern denen man vielmehr mit Respekt begegnen sollte. Willkommen in 2020, heute applaudiert man Frauen, anstatt sie zu shamen.
Mal ganz davon abgesehen, haben Muskeln zahlreiche gesundheitliche und psychische Vorteile zu bieten. So helfen sie unter anderem gegen Verspannungen, Schmerzen und unterstützen eine aufrechte Haltung. Letzteres boostet zusammen mit der gewonnenen Stärke des Krafttraings das Selbstbewusstsein vieler Frauen.
Also warum sollten wir Frauen uns das Krafttraining verbieten oder ein Muskellimit aufdrücken lassen, wenn der Muskelaufbau uns sowohl körperlich als auch mental fit macht? Mit Sicherheit nicht, um länger Schönheits- und Körperidealen zu entsprechen. Hier muss die Antwort ganz klar lauten: So etwas wie zu viele Muskeln bei einer Frau gibt es nicht.
Kann es bei einer Frau zu viele Muskeln geben?
Frauen mit Muskeln sind alles andere als „unmenschlich“ oder „gruselig“, sondern vielmehr Sinnbild einer neuen Ära der Körperbilder, welche die eigene Gesundheit und das Wohlergehen in den Mittelpunkt rückt.
Wenngleich Muskelaufbau immer dann kritisch beäugt werden sollte, sobald er ein blindes Nacheifern aktueller Trends darstellt. Kurz: Wer mit Pamela trainiert, um sich fit, stark und selbstbewusst zu fühlen, go for it! Wer jedes Video von ihr hoch- und runterturnt, um in ihren Puma-Tights auf Instagram eine bessere Figur abzugeben und mehr Likes abzustauben, sollte das vielleicht noch einmal überdenken.
Und doch ist für mich ganz klar, dass eine Frau nie zu viele Muskeln haben kann, zumal eine Frau tun und lassen kann, was sie möchte und das doch bitte ohne ungewollte Kommentare abzugreifen. Auf eine Zukunft, in der wir den Blick einzig nach innen richten.
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