Manche Menschen scheinen einfach nicht akzeptieren zu wollen, dass das Leben nicht immer eitel Sonnenschein ist. Wendet man sich mit ernsthaften Problemen an sie, so heißt es nur „Das wird schon“ oder „Alles halb so wild“. Wer auf Mitgefühl hofft und dann mit solchen Sätzen abgespeist wird, ist zu Recht enttäuscht, verärgert oder fühlt sich nicht ernst genommen. Doch Toxische Positivät kann sogar noch schwerwiegendere Folgen haben.
Toxische Positivität: Das steckt dahinter
Was ist toxische Positivität?
Thepsychologygroup bezeichnet toxische Positivität „als die übermäßige und ineffektive Übergeneralisierung eines glücklichen, optimistischen Zustands in allen Situationen [bezeichnet]. Der Prozess der toxischen Positivität führt zur Verleugnung, Minimierung und Entwertung der authentischen menschlichen emotionalen Erfahrung.“
Wer negative Emotionen schnell wegschiebt und stattdessen immerzu alles positiv sehen möchte, verhält sich toxisch positiv. Giftig wird positives Verhalten immer dann, wenn eigene oder fremde negative Emotionen unterdrückt werden.
Das soll natürlich nicht bedeuten, dass es schlecht ist, eine positive Grundeinstellung zu haben. Im Gegenteil: Wie eine Studie ergab, führt eine positive Grundhaltung zu mehr Zufriedenheit, erhöht die Lebenserwartung und senkt das Risiko für Herzerkrankungen. Eine positive Haltung darf daher nicht mit toxischer Positivität verwechselt werden.
Wie toxische Positivität andere verletzen kann
Es ist gar nicht so lange her, da habe ich einen Elternteil verloren. Mal davon abgesehen, dass man bei einem solchen Verlust selbst einige Zeit braucht, um die Gefühle zu ordnen, war ich doch recht beeindruckt davon, wie unterschiedlich Freunde und Bekannte darauf reagierten. Die meisten bekundeten ihr aufrichtiges Beileid und boten sich an, jederzeit da zu sein. Das habe ich ihnen bis heute nicht vergessen.
Mein Partner meisterte die Situation mit absoluter Ehrlichkeit, für die ich ihn nur noch mehr lieben gelernt habe: Er, der selbst schon einen Elternteil verloren hat, versicherte mir, dass mich die Trauer und der Verlust nie loslassen würden, es mit der Zeit aber besser wird. Doch gab es tatsächlich auch Menschen, die mit leeren Phrasen um sich warfen, à la „Kopf hoch. Das wird schon wieder!“ Fast schon makaber. Ich meine, wie soll das denn wieder werden? Da ist ein Mensch von uns gegangen, für immer.
Doch nicht nur in dieser Situation, sondern auch in zahlreichen anderen sind mir schon etliche dieser leeren Phrasen untergekommen. Mein All-Time-Favorit, um beispielsweise Liebeskummer abzutun: Bis du heiratest, ist alles wieder gut. Oder auch: Du musst einfach positiv denken, du bist immer viel zu negativ. Heute weiß ich, dass das nicht nur leere Worte sind. Vielmehr kann man das als toxische Positivität bezeichnen.
Was ist das Problem an toxischer Positivität?
Überwinde ich mich und spreche offen über meine Gefühle, möchte ich keinen Schulterklopfer. Und schon gar nicht möchte ich Sätze hören wie: Einfach dranbleiben! Alles wird schon wieder! Am liebsten würde ich Menschen in diesen Momenten ins Gesicht brüllen: „NATÜRLICH WIRD ALLES WIEDER! ABER JETZT FÜHLE ICH MICH ELENDIG!“
Toxisch Positive Menschen streben nach einem perfekten Leben, voller Harmonie, Sonnenschein und guter Vibes. Verübeln kann ich es ihnen nicht. Etwas verblendet ist das meiner Meinung aber schon. Denn im Leben ist nicht immer alles eitel Sonnenschein.
Und wer nach der Maxime Good Vibes Only lebt, unterdrückt echte menschliche Gefühle, leugnet gar, dass es negative Emotionen gibt. Trauer, Wut, Ekel, Eifersucht, Neid und Ärger sind Emotionen, von denen sich kein Mensch frei machen kann. Denn kein Mensch ist perfekt. Und kein Mensch hat jeden Tag supergute Laune. Rückschläge warten an jeder Ecke.
Versteht mich nicht falsch: Ich bewundere Menschen, die eine positive Einstellung zum Leben haben. Das kann ich von mir als selbst ernannte Realistin mit pessimistischen Zügen nicht behaupten. Trägt jemand jeden Tag ein Lächeln im Gesicht und strahlt nur so vor Lebensfreude, geht mir das Herz auf und ich lasse mich gerne davon anstecken. Doch wie alles im Leben hat auch die Positivität ihre Grenzen.
Wenn Negativität komplett ausgesperrt wird
Wird diese Grenze überschritten, handelt es sich um toxische Positivität. Und die mäht einmal über den menschlichen Gefühlskanon, um nichts als gute Laune übrigzulassen. Es ist die eine Sache, wenn jemand für sich entscheidet, fortan ein positiveres Mindset zu haben. Auch ich nehme mir vor, mithilfe von Autosuggestion entspannter durchs Leben zu gehen. Eine andere Sache ist es jedoch, anderen Menschen ihre negativen Gefühle abzusprechen.
Mitunter gehen toxisch positive Menschen nämlich so weit, dass sie sich von Menschen distanzieren, weil die ihnen zu negativ sind. Und das nicht etwa, weil fleischgewordene Pessimist:innen vor ihnen sitzen, sondern weil diese Menschen ganz natürliche Emotionen teilen.
Natürlich ist das ihr gutes Recht. Vor allem, wenn es ihnen selbst hilft, ihre mentale Balance dadurch zu erhalten. Und doch kommt es mir letztlich vor, als würden toxisch positive Menschen das echte Leben leugnen.
Toxische Positivität hilft niemanden
Ich kann es sehr gut nachvollziehen, dass Menschen immer positiv denken und Probleme von sich weisen wollen. Es muss sich leicht anfühlen, so über allem Unheil zu schweben, leicht wie eine rosa Wolke. Und auch sich Phrasen wie Wird schon! zu bedienen, leuchtet ein.
Zwar löst man so nicht die Probleme von Freunden und Bekannten. Allerdings befreit man sich damit leicht von der Verantwortung, sich fremden Konflikten zu stellen. Salopp gesagt: Toxisch positive Menschen machen sich die Welt, wie sie ihnen gefällt.
Toxische Positivität dient letztlich weder dem, der sich ihr bedient, noch den Menschen, die negative Emotionen äußern. Denn leere Phrasen lösen weder Kummer noch Sorgen. Natürlich möchte ich damit nicht sagen, dass Positivität in Krisenmomenten nicht wichtig wäre. In der Tat kann sie Wunder bewirken. Doch was es in erster Linie in solchen Momenten braucht, ist Empathie und ein offenes Ohr, keine jede Emotion im Keim erstickende toxische Positivität.
Und auch der oder die toxisch positive Person tut sich keinen Gefallen. Denn wer immerzu alles von sich schiebt, stumpft ab und lernt nicht, gesund mit den eigenen Gefühlen umzugehen. Die Wahrheit ist doch auch, dass man manchmal einfach heulen und schreien möchte, bis sich am nächsten Tag oder vielleicht erst in der nächsten Woche der Nebel lichtet.
Auch Psychotherapeut Noel McDermott meint gegenüber Refinery29, dass wir negative Gefühle unbedingt zulassen müssen: „Schließlich verraten sie uns viel darüber, ob eine Situation für uns sicher ist oder wir uns lieber daraus zurückziehen sollten.“
Fazit: Ich plädiere für Empathie statt Toxischer Positivität
Mein Plädoyer an alle Good Vibers und an die, die mit dem Flow gehen, ist also: Bleibt unbedingt positiv! Aber bitte hört auf, eigene und fremde negative Emotionen herunterzuschlucken und wegzuschieben. Negative Gefühle gehören zum Leben dazu und müssen gehört und verarbeitet werden. Und dabei könnt ihr anderen Menschen helfen – und zwar, indem ihr empathisch auftretet.
Ist euch ein Mensch wichtig, agiert also zukünftig nicht mit leeren Phrasen und versucht nicht, dem oder der anderen euren Mantel der Positivität überzuziehen, um alles Negative zu ersticken. Seid stattdessen aufmerksam, hört aktiv und ohne Vorteile zu und nehmt andere Gefühle ernst.
So gebt ihr dem oder der anderen das Gefühl von Wertschätzung und legt die Basis für eine wirklich tiefgründige Beziehung. Und die ist allemal mehr wert, als auf der oberflächlichen rosa Positivität-Wolke dahinzuschweben. Der Schlüssel liegt außerdem in einer wertschätzenden Kommunikation …
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Diese Phrasen solltest du zukünftig vermeiden:
- „Das wird schon wieder.“
- „Denk einfach positiv.“
- „Only Good Vibes!“
- „Sei doch nicht so negativ!“
- „Einfach dranbleiben!“
Diese Phrasen kannst du stattdessen nutzen:
- „Sieh, was du schon alles erreicht hast. Ich glaube an dich und bin für dich da. Zusammen schaffen wir das.“
- „Es ist in Ordnung, dass du dich jetzt so fühlst. Lass deine Emotionen zu und arbeite mit ihnen.“
- „Es ist völlig in Ordnung, in diesem Moment alles negativ zu sehen.“
- „Aufgeben ist kein Versagen. Es ist in Ordnung, nicht alles zu Ende zu bringen.“
- „Ich weiß, dass es dir heute schlecht geht. Können wir etwas tun, dass dir Spaß bereitet?“
- „Jetzt einen Sinn darin zu sehen, fällt sicher schwer. Aber eines Tages werden wir dieser Phase deines Lebens einen Sinn verleihen.“