Veröffentlicht inInsights

Sexualkunde: So funktioniert eine ordentliche Aufklärung laut Experten

Sex ist ein alltägliches Thema. Auch an Schulen. Wie weit darf Sexualkunde heute gehen? Welche Themen sollte man lieber aussparen? Experten verraten es uns.

sex bett
Es gibt vieles, was zu einer ordentlichen Aufklärung dazu gehört. Foto: Getty Images / franckreporter

Die Deutschen haben im Durchschnitt mehrere Tausend Mal Sex im Leben. Bei so viel Sex ist eine gute Aufklärung besonders wichtig. Denn zu einer ordentlichen Aufklärung gehört wesentlich mehr dazu, als den Aufbau der Geschlechtsorgane zu kennen. Der Unterricht der Sexualkunde umfasst heute ein weites Spektrum verschiedenster Themen, Schwerpunkte und einstigen Tabus.

In vielen deutschen Schulen wird der Unterricht bereits entspannter und an unsere Zeit angepasst gestaltet. Doch wie weit geht der Sexualunterricht wirklich und was fehlt den Kindern noch in ihrer Aufklärung? Ich werde in diesem Artikel auf die Herausforderungen eingehen, denen sich Lehrkräfte stellen müssen und Raum für Verbesserungsvorschläge geben.

Sexualkunde: Die Problematik des Themas

Die Frage, „Wie sieht guter Sexualunterricht aus?“ stellen sich sowohl Eltern als auch Lehrer, besonders in Zeiten mit leicht zugänglicher Pornografie im Netz, Missbrauchsskandalen und Debatten über Geschlechtsidentitäten. Denn heutzutage kommen Kinder durch das Internet wesentlich früher mit dem Thema Sexualität in Berührung. Statistiken zufolge besaßen im Jahr 2019 bereits 75 % der 10 bis 11-Jährigen ein internetfähiges Smartphone.

Nice To Know: Durchschnittliche Deutsche haben in ihrem Leben mehr als 2.000 Mal Sex. Eine Studie des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf kommt auf diese Zahlen. Sie befragten 4955 Teilnehmende zwischen 18 und 75 Jahren zu ihren Sexualverhalten. In den Jahren 18 bis 35 haben die Deutschen gut 5 Mal im Monat Sex.

In diesen 17 Jahren haben die Deutschen also gut 1020 Mal Sex. Von 36 bis 55 haben die Deutschen 4 Mal pro Monat Sex. Diese 19 Jahre lang haben die Deutschen also gut 912 Mal Sex. So kommt man auf einen Wert von 1.932 Mal Sex zwischen 18 und 55 Jahren. Und das ist nur der Durchschnitt…

Gespräch mit einem Lehrer für Sexualkunde

Für diesen Artikel haben wir ein Interview mit einem Gymnasiallehrer aus Münster. Wir nennen ihn für diesen Artikel Herr Wagner. Herr Wagner unterrichtet seit vielen Jahren Sport und Biologie, somit auch Sexualkunde. Seiner Meinung nach sollte sich der Sexualunterricht an Schulen nicht nach einem strengen Konzept richten, sondern stattdessen auf die bereits vorhandenen Wissensstände und die Bedürfnisse der Schüler:innen eingehen. Er berichtete uns von einer interessanten Begegnung in seiner sechsten Klassen:

„Ein nervöser Junge fragte während des Unterrichts ‚Was ist denn eigentlich ein Tampon?‘ Herr Wagner fragte zurück: ‚Kann das jemand aus dieser Klasse beantworten?‘ Ein Mädchen meldete sich. Sie war ganz gelassen und fragte zurück: ‚Weißt du, was eine Binde oder eine Slipeinlage ist?‘ Der Junge wurde immer nervöser und sagte: ‚Nein.‘

Sie seufzte und erklärte Schritt für Schritt, dass bei der Menstruation das Blut aufgefangen werden musste und dafür Tampons oder eben Binden und Slipeinlagen genutzt würden. Der Junge machte große Augen und schien mit so viel Information überfordert zu sein.“

Dieses Beispiel zeigt, wie unterschiedlich Schüler und Schülerinnen mit Sex und Körperlichkeit umgehen. „Es ist wichtig, dass niemand überfordert ist oder gar Angst davor hat“, so der Lehrer aus Münster.

„Es ist wichtig, dass niemand überfordert ist oder gar Angst davor hat.“

Herr Wagner, Sexualkundelehrer am Gymnasium

Ein Blick in die Vergangenheit…

Erstmals im Jahr 1968 wurde durch die Kultusministerkonferenz die „Empfehlung zur Sexualerziehung an Schulen“ in der Bundesrepublik beschlossen. Die DDR gründete schon zwei Jahre davor die interdisziplinäre Forschungsgemeinschaft Sexualpädagogik, um hier Lehrmaterialien für Schulen zu entwickeln. Eine tolle Sache, oder? Sollte sich die Politik überhaupt in die Aufklärung an Schulen einmischen?

Selbst heute steht immer wieder die Frage im Raum, ob der Staat Bestimmungen vorgeben sollte, ab wann und wie Sexualkunde unterrichtet wird. Es kommt immer wieder zu Diskussionen über Altersgrenzen: Sollte man mit der Aufklärung schon im Kindergarten beginnen, oder doch erst in der 8. Klasse?

Geht der Sexualunterricht zu weit? Oder nicht weit genug?

Auch die Inhalte und Methoden innerhalb des Sexualkundeunterrichts werden immer wieder diskutiert: Was sollten die Schüler:innen wissen und was nicht? Natürlich spielen hier kulturelle Befindlichkeiten eine Rolle, da es in manchen Religionen üblich ist, kein Sex vor der Ehe zu haben. Sowie das Recht auf Selbstbestimmung, da jede:r selbst über sich und den Körper entscheiden kann. Hinzu kommen rechts- oder religiös-konservative Stimmen, die der Meinung sind, dass Sexualkunde in der Schule abgeschafft werden sollte. Damit den Kindern nichts vorgeschrieben wird, was die Sexualität betrifft.

Jedoch kämpft auch die LGBTQIA+-Community schon länger um ihre Rechte und dafür, dass die sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität enttabuisiert wird. Weswegen es besonders wichtig ist, diese Themen auch an Schulen offen zu besprechen.

Redaktionstipp: Du bist dir nicht ganz sicher, wie viele Geschlechter es gibt? Wir haben eine Liste der Sexualitäten für dich zusammengestellt: Alle Orientierungen der LGBTQ-Community im Überblick.

Banane Kondome
Verhütung sollte auch wesentlich ausführlicher behandelt werden. Foto: Getty Images / Sergei Fyss

Plädoyer für Sexualkunde: Mehr davon!

Durch Sexualkunde sollen Schüler:innen in erster Linie über ihren eigenen Körper und die Fortpflanzung aufgeklärt werden, so erklärte es uns Herr Wagner. Allerdings haben Lehrer:innen dabei einen gewissen Spielraum, wie sie die Themen behandeln. Die Themen sind zwar im Curriculum für jedes Bundesland vorgegeben, jedoch nur sehr allgemein.

Sexualkunde wird bei uns in der sechsten, in der neunten und noch einmal in der elften Klasse unterrichtet. Immer beginne ich bei den Basics, denn viele der Schüler und Schülerinnen sind auf sehr unterschiedlichen Wissensständen.“

Es ist also wichtig, die Schüler:innen erst einmal auf denselben Wissensstand zu bringen. Einige haben schon erste sexuelle Erfahrungen gemacht, andere wiederum nicht.

Laut Wagner sollte man ebenfalls über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität sprechen, um gegen Vorurteile vorzugehen und besonders, um Toleranz in der Gesellschaft zu schaffen.

Was gehört denn nun alles zur Sexualkunde?

Zum Sex gehört sehr viel mehr als das Wissen über die Bestandteile der Geschlechtsorgane oder die ungefähre Dauer der Menstruation, da sind wir uns in der wmn-Redaktion sicher.

Ein breites Wissen über die unterschiedlichen Sexualitäten kann eine Hilfestellung bei der Orientierung für das eigene Leben sein. Allgemein ist es sehr wichtig, ausführlich darüber zu sprechen, da es mit allem, was dazu gehört, einen großen Platz in unserem Alltag einnimmt.

Auch die Aufklärung über Geschlechtskrankheiten darf daher keinesfalls zu Kurz kommen. Damit verbunden ist auch das Thema Verhütung und welche Methoden es außer der Anti-Babypille gibt. Menstruation und Menstruationshygiene sollten ausführlich besprochen werden.

Redaktionstipp: Du suchst nach Alternativen für Tampons? We got you! Diese 5 Tampon Alternativen solltest du kennen.

Unterricht hat auch Grenzen, aber wo?

Es sollte darauf geachtet werden, dass eine offene Kommunikation stattfinden kann, natürlich gibt es da auch Grenzen. Diese liegen vor allem beim Übergang vom öffentlichen Interesse zum persönlichen Interesse. Das bestätigt auch Herr Wagner im Interview: „Es gehört alles zum Sexualkundeunterricht, was die Lernenden interessiert. Wer Fragen stellt, der oder die bekommt auch Antworten. Die einzigen Fragen, die ich nicht beantworten würde, sind die nach meinen persönlichen sexuellen Präferenzen. Genauso wenig würde ich die Schüler und Schülerinnen fragen, worauf sie beim Sex stehen. Das wäre eine krasse Grenzüberschreitung.“

Es gehört alles zum Sexualkundeunterricht, was die Lernenden interessiert.

Herr Wagner, Sexualkundelehrer am Gymnasium
Tampons Slipeinlagen
Auch über die Menstruation und die Menstruationshygiene sollte ausreichend im Sexualkundeunterricht gesprochen werden. Foto: IMAGO Images / Panthermedia

Aus diesem Grund kommt Sexualkunde in vielen Schulen zu kurz

Viele (ehemalige) Schüler:innen beschweren sich darüber, dass Sexualkunde im Unterricht zu kurz kommt. Ich habe das während der Recherche für diesen Artikel in unserer Redaktion bestätigt bekommen: Die meisten meiner Kolleg:innen haben sich das, was sie heute über Sex wissen, selbst beigebracht. Auch wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, fällt mir auf, dass das Thema Sex eher klein gehalten wurde.

Es ging mehr um die Fortpflanzung an sich, als um die richtige Verhütung und die Gefahr von Geschlechtskrankheiten. Auch die Menstruation wurde nur sehr allgemein besprochen. Zur Menstruationshygiene stellte unsere damalige Biolehrerin nur Binden und Tampons vor.

Dabei weiß ich heute, dass es so viele Alternativen gibt. Die Geschlechtsidentitäten und unterschiedliche sexuelle Orientierungen wurden bei uns in der 8. Klasse gar nicht angesprochen. Thementage gab es für solche wichtigen Themen damals auch nicht. Doch woran liegt das?

Der wahre Grund für unser fehlendes Wissen?

Sexualkunde schon zu unterrichten, ist ein schmaler Grat. Lehrer:innen wollen ihre „kindlichen“ Schüler:innen, die noch nicht in diesem Thema stecken, nicht überfordern. Dies sieht Herr Wagner selbst in seiner 9. Klasse noch als Problem. Er beschreibt: „Meiner Ansicht nach gibt es viele Dinge, die beim Sexualunterricht an deutschen Schulen Lücken in der Aufklärung aufzeigen. Das liegt aber nicht am Kollegium, sondern vielmehr am Wissensstand und der Aufnahmebereitschaft der Schüler und Schülerinnen. Jede Klasse ist sehr heterogen und hat ihre eigenen Bedürfnisse.“

Im Grunde ist es also schwierig, die goldene Mitte zu finden, wenn die eine Hälfte der Klasse sich schon sehr für diese Thematik interessiert und die andere Hälfte nicht. Auch die verschiedenen Interessenfelder der Schüler:innen spielen eine Rolle, da die einen sich beispielsweise für Transsexualität interessieren, während andere das überhaupt nicht interessiert.

Pornos, Queerness, Trans: Ja oder Nein?

Dennoch gibt es Themen, die durch die heutigen Entwicklungen deutlich mehr besprochen werden müssen. Darunter zählt beispielsweise die Pornoindustrie, queerer Sex und sexualisierte Gewalt. Auch wenn diese Themen vielleicht über die Expertise der Lehrer:innen hinausgehen, sollte man meiner Meinung nach darüber aufklären, beispielsweise durch Hilfsmittel aus dem Internet.

Diese Lehrmethode nutzt auch Herr Wagner aus Münster, „Noch bis vor wenigen Jahren waren Transgender-Personen in den Bio-Büchern gar kein Thema. Doch auch die Lehrbücher verändern sich und die Abkehr von schwarz-weiß-Denken wird immer wichtiger. Da ich selbst bei LGBTQIA+-Themen oft überfragt bin, zeige ich zu diesen Themen Dokumentationen.“

Auch das Thema Pornografie spricht er in seinem Unterricht an. „Die Schüler und Schülerinnen müssen wissen, dass Pornos eine Fantasie sind und keine Abbildung der Realität. Auf Grundlage dieses Wissens müssen sie die Entscheidung treffen, was sie tun wollen.“ Jedoch sei ihm ebenfalls wichtig, sie nicht direkt auf die Pornoindustrie aufmerksam zu machen und sie womöglich in diese Richtung zu „lenken“.

Sexualkunde
Bei der Sexualkunde, sollte besonders darauf geachtet werden, dass keine Scham entsteht oder Angst vor etwas. Foto: IMAGO Images / Panthermedia

Das sagt Experte Andreas Ritter zu der Thematik…

Zusätzlich haben wir mit dem Experten Andreas Ritter von pro familia gesprochen und ihn zu dieser Thematik befragt. Dies ist eine Beratungsstelle für Sexualität, Schwangerschaft oder auch Partnerschaft, bei der bereits viele Schulklassen was zum Thema Aufklärung und Sexualkunde gelernt haben.

wmn: Wieso ist eine ordentliche Aufklärung so wichtig heutzutage?

Andreas Ritter: Jugendliche und junge Menschen durchleben verschiedene Entwicklungsphasen und werden mit einer Vielzahl an Informationen konfrontiert, auch durch das Internet. Besonders durch Corona haben sich die ganzen Themen wie Beziehungen und Dating viel mehr online abgespielt. Dadurch ist es besonders wichtig, dass ihnen gute Informationen gelehrt werden und auch ihre ganzen Fragen gut erklärt werden, sodass sie eine:n Ansprechpartner:in haben. Das ist auch die Grundlage dafür, dass sie dann ihre eigenen Entscheidungen treffen können.

grapefruit laken
Auch die weibliche Lust wird oft zu wenig thematisiert. Foto: Getty Images / Tanja Ivanova

Die weibliche Lust kommt zu kurz – wieso ist das so?

wmn: Was gehört Ihrer Meinung nach alles zur Sexualkunde?

Andreas Ritter: Zur Sexualkunde gehört in jedem Fall mehr als die biologischen Fakten und Verhütung. Das sind Identitätsthemen, mit den Fragen „Wer bin ich?“, „In wen verliebe ich mich?“ und Jugendliche sollten dabei auch herausfinden, wie sie selbst bestimmte Situationen erleben möchten. Daher gehören auch Themen dazu, die erste Erfahrungen betreffen, wie man beispielsweise eine Beziehung führt oder wie der erste Kuss funktioniert. Viele Jugendliche fragen sich auch, ob sie sich anfassen dürfen und ob das normal ist. Wichtige Themenpunkte sind auch sexuelle Darstellungen im Internet und wie man damit umgeht und wie sie damit klarkommen. Wir leben in einer vielfältigen Gesellschaft, weswegen auch die Themen vielfältig sind, die behandelt werden sollten. Dazu zählen heutzutage auch die sexuelle Orientierung und Feminismus.

wmn: Welche bestimmten Themen kommen Ihrer Meinung nach am meisten zu kurz?

Andreas Ritter: Im Sexualkundeunterricht kommen Themen wie Lust haben, besonders die weibliche Lust, aber auch Konsens oder bildhafte Darstellung und Pornografie zu kurz. Aber eben auch so basic Fragen wie beispielsweise, wie man jemanden kennenlernen kann, sollten intensiver besprochen werden.

wmn: Woran könnte es liegen, dass Sexualkunde zu kurz kommt in Schulen?

Andreas Ritter: Ich denke, dass das sehr unterschiedlich in den Schulen ist. Wir stehen beispielsweise in Kontakt mit Schulen, da gibt es Sexualkunde im Unterricht und zusätzlich kommen sie noch zu uns, um noch mehr zu erfahren. In anderen Schulen wiederum wird Sexualkunde nur als Teil des Biologie-Unterrichts abgehalten.

Es gibt Lehrer:innen, die gern und locker über die Themen Liebe, Beziehungen und Sexualität sprechen und andere wiederum nicht, da sie selbst Hemmungen haben oder sich in der Hinsicht nicht genug gebildet fühlen.

Das können wir für den zukünftigen Aufklärungsunterricht lernen

Wie wir sehen, gibt es beim Thema Sexualkunde eine Menge, was man beachten muss. Zum einen ist es schwierig, alle Themen, die heute eine Relevanz haben, abzudecken. Zum anderen hat Herr Wagner uns erklärt, wie wichtig es ist, die Bedürfnisse der Schüler:innen zu achten.

Durch die unterschiedlichen Wissensstände der Schüler:innen ist es schwierig, eine Balance zu finden, um denjenigen, die noch nicht so weit in der Entwicklung sind, keine Angst einzujagen.

Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, erinnere ich mich, dass wir in jeder Schulklasse einen sogenannten fächerverbindenden Unterricht hatten. Dieser ging dann eine komplette Woche lang und man hat sich in verschiedenen Fächern mit ein- und demselben Thema befasst. Meiner Meinung nach würde das gerade bei dem Thema Sexualkunde auch super funktionieren. Dann könnte man sich auch mit der moralischen Seite auseinandersetzen und über wichtige Themen, wie sexualisierte Gewalt oder Missbrauch sprechen.

Denn auch das sind Themen, über die viel zu wenig gesprochen wird, obwohl die heutzutage wichtiger denn je sind. Ich persönlich denke, dass es auch besonders darum geht, den Schülern:innen einen Raum zu geben, um solche Dinge anzusprechen und vielleicht auch sich mit Gleichaltrigen auszutauschen.

Das könnte dich auch interessieren: