In der Vergangenheit verging kein Bewerbungsgespräch, in dem ich nicht hervorhob, wie unglaublich ehrgeizig ich bin. „Setze ich mir ein Ziel, erreiche ich es“, verkündete ich stets stolz. Heute würde ich mit dieser Eigenschaft nicht mehr angeben, denn sie ist in meinen Augen längst keine meiner Stärke mehr, sondern vielmehr zu einer meiner persönlichen Schwächen geworden. Viele Jahre bin ich einem toxischen Ehrgeiz aufgesessen, der mich nicht nach vorne brachte, sondern zurückhielt. Wie ich das meine? Das erfährst du in diesem Artikel.
„Was du haben möchtest, musst du dir erkämpfen“
Versteh‘ mich nicht falsch: Ich verfluche Ehrgeiz als Charaktereigenschaft nicht. Ich glaube auch nicht, dass ich heute dort stehen würde, wo ich stehe, wäre ich nicht so verdammt ehrgeizig. Und ich möchte meinen Ehrgeiz auch nicht missen. Teils kämpfe ich allerdings etwas zu verbissen für meine Ziele – im Übrigen im wahrsten Sinne des Wortes, da ich täglich eine Beißschiene tragen muss vom ganzen Zähneknirschen. Aber von Anfang an.
Meine Eltern haben mich mit der Maxime aufgezogen, dass mir in dieser Welt nichts geschenkt wird. „Was du haben möchtest, musst du dir erkämpfen“, hieß es. Ehrgeiz wurde mir demnach früh eingetrichtert, wenngleich meine Eltern nie von mir erwartet haben, dass ich Bestleistungen erbringe. Alles, was sie wollten, war, dass ich glücklich bin.
Ich MUSSTE überall die Beste sein
Besagte Bestleistungen erwartete ich jedoch bald von mir selbst – und daran war vor allem der Sport schuld, der meinen Ehrgeiz so richtig befeuerte. Etymologisch kommt der Begriff Ehrgeiz übrigens von den althochdeutschen Wörtern êre (Ehre) und gite (Gier).
Vor allem Zweites spürte ich, wenn ich beim Sprinten mal wieder die Schnellste sein, höher als die ganze Klasse springen und weiter als die Jungen werfen wollte. Aber auch in anderen Bereichen war es mir stets wichtig, die Beste sein: beim Vorlesen, beim Würstchenschnappen, beim Puzzeln, selbst beim Nachtanzen von NoAngels-Choreografien. Scheiterte ich an meinem Ziel, versetzte mir das einen Dämpfer, der mich zu Hause heimlich weinen ließ.
Irgendwann verstand ich allerdings, dass ich meinen Ehrgeiz nicht für jedes beliebige Ziel aufopfern sollte. Meine Wurfkünste mit denen eines pubertierenden Jungen zu vergleichen oder mit null Rhythmusgefühl in der ersten Reihe tanzen – das war meine Mühe nicht wert.
Irgendwo hier muss er begonnen haben: mein toxischer Ehrgeiz
Stattdessen richtete ich meine Energie fortan auf meine Stärken und Ziele, die mir wirklich wichtig waren. Meinen trotzigen, kindlichen Ehrgeiz ersetzte ich demnach durch die Form von Motivation, die in unserer Gesellschaft durchaus erwünscht ist und gefördert wird. Ehrgeiz wird als eine positive Charaktereigenschaft gewertet, die das Streben nach Leistungen, Erfolg und Anerkennung im Sinn hat. Ehrgeiz, so könnte man kurzfassen, ermöglicht uns, stets unser bestes Selbst zu werden.
Mein Ehrgeiz beschränkte sich nun darauf, dass ich immer die spannendste Geschichte schreiben, das kreativste Bild malen oder den umfangreichsten Vortrag halten wollte. Und irgendwo hier muss er begonnen haben: mein toxischer Ehrgeiz, den ich mit meinem Hang zur Perfektion paarte.
Ich verbrachte nach der Schule Stunden damit, meine Hausaufgaben zu machen und präventiv für unangekündigte Tests zu lernen. Wegen meines Ehrgeizes. Ich verbrachte Wochen mit der Vorbereitung von freiwilligen Vorträgen. Wegen meines Ehrgeizes. Ich malte ein Bild für den Kunstunterricht zu Hause noch einmal komplett neu. Wegen meines Ehrgeizes – und meines Perfektionismus.
Während andere ihren Hobbys nachgingen, frönte ich meinem Ehrgeiz. Immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass ich nur so erfolgreich sein werde. Und nun kommen wir zum Knackpunkt des Ganzen. Ich kann nämlich nicht leugnen, dass sich diese Extrastunden nicht gelohnt hätten. Ganz im Gegenteil: Mein toxischer Ehrgeiz verhalf mir tatsächlich zu guten Noten, zu einem super Abitur, später zu einem Studienplatz, zu zwei Abschlüssen und heute sogar zu einem festen Job.
Ehrgeiz bringt dich voran, bis er dir im Weg steht
Was mir mein toxischer Ehrgeiz allerdings nicht verschaffte, war Glück. Schon früh unterschied man in der Geschichte des Begriffs zwischen einem positiven, gesunden und einem negativen, ungesunden Ehrgeiz. Zweiterer ist allein auf die Anerkennung anderer gerichtet. Und wenn ich ehrlich bin, dann war genau das bei jedem meiner Ehrgeizanfälle mein Ziel: dass andere Menschen mich mehr wertschätzen, dass sie mich loben und dass sie mich vielleicht sogar beneiden.
Mein toxischer Ehrgeiz vernachlässigte dabei aber vor allem eines: mich selbst. Ich hielt meinen Selbstwert stets auf Sparflamme, war vorsichtig, um bloß nicht zur Selbstüberschätzung zu neigen und wollte mir meine Erfolge mit meinem Ehrgeiz erst verdienen. Erst danach würde ich mir erlauben, stolz auf mich zu sein.
Das Problem war aber, dass dieser Stolz in der Regel ausblieb. Mein Ehrgeiz, auf den ich Jahre lang so stolz gewesen war und den ich in Bewerbungsgesprächen wie eine Medaille um den Hals trug, verbot es mir, meine Erfolge zu feiern und ließ mich direkt zum nächsten Projekt übergehen.
Ein Beispiel: Ich habe mir immer gesagt, dass der höchste Abschluss mein Master sein wird und dass ich eine riesen Party feiern werden, wenn ich ihn in der Tasche habe. Mehrfach brach ich auf meinem Weg dahin nervlich zusammen und erlebte zahlreiche schlaflose Nächste. Aber nach über einem Jahr und fünf Falten mehr auf der Stirn hatte ich ihn in der Tasche: meinen Abschluss.
Und was tat ich? Ich feierte keine Party. Ich rahmte auch nie das Zeugnis, wie ich es mir vorgenommen hatte. Und inbrünstig stolz war ich auch nicht. Stattdessen machte sich in mir die Angst breit, welchen Meilenstein ich als Nächstes bewältigen könnte, um nicht dem Stillstand zu verfallen.
Mein toxischer Ehrgeiz ruinierte mir einen der wichtigsten Momente meines Lebens und stand so meinem Glück im Weg. Das ist keine Stärke, das ist eine Schwäche – auch, wenn mein Ehrgeiz mich auf dem Papier weit gebracht hat.
Toxischen Ehrgeiz verbanne ich aus meinem Leben
Ich frage mich stets, worauf ich am Ende meines Lebens wohl zurückblicken werde. Ich zweifele stark an, dass ich dann wehmütig auf meine Karriere zurückblicken werde oder daran denken werde, dass ich einst einen Uniabschluss absolviert habe.
Vielmehr werde ich mich an die Momente erinnern, in denen ich ehrlich glücklich war, so wie meine Eltern es sich für mich wünschten. Aber keiner meiner bisher glücklichsten Momente hat auch nur entfernt etwas mit meinem toxischen Ehrgeiz zu tun.
Die schönsten Momente habe ich, wenn meine Ellenbogen eingefahren sind, ich mit mir im Reinen bin und Menschen um mich herum habe, die mir wichtig sind und denen auch ich etwas bedeute – ob ich nun faul auf meiner Haut liege oder meinem nächsten großen Ziel hinterherjage.
Lieber scheitere ich zukünftig, weil ich meinen Ehrgeiz klein gehalten habe und bin glücklich, weil ich nicht für das Ziel, sondern für den Weg gelebt habe, als die Karriereleiter weiter aufzusteigen und mich dabei weiter selbst in meinem Ehrgeiz zu verlieren. Mit Sicherheit geht auch beides: Ehrgeiz und Glück. Bis jetzt habe ich aber noch nicht herausgefunden, wie das gelingen soll…
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